Kindstötung war im historischen Europa akzeptiert

  • Täter haben diese Verbrechen laut neuen Auswertungen in vielen Fällen nicht als solche angesehen

Halifax, PTE, 14. Juli 2023

Der routinemäßige #Infantizid von Neugeborenen durch ihre Eltern, also die absichtliche Verursachung des Todes, war im frühen modernen #Europa viel verbreiteter als bisher angenommen. Zu dem Ergebnis kommen Gregory Hanlon von der Dalhousie University und weitere Historiker. Laut ihrem Buch »Death Control in the West 1500—1800« handelte es sich bei der Kindstötung in den meisten Fällen um ein #Verbrechen, bei dem keine geschädigte Partei, wenn es richtig durchgeführt wurde, auf #Vergeltung aus war. Dieses Verbrechen konnte übersehen und im Laufe der Zeit vergessen werden, heißt es.

Blinde Flecken der #Forschung

Laut Hanlon gibt es in dem Bereich nur wenig Forschung. Diese Studien hätten sich auch nie mit den Geschlechterverhältnissen der Kinder beschäftigt, die Stunden oder Tage nach der Geburt getauft wurden. Diese Aufzeichnungen zeigen jedoch nach dem Auftreten von Hungersnöten oder Krankheiten verblüffende Höchstwerte bei der Taufe männlicher Kinder. Laut dem Wissenschaftler haben sich westliche Historiker bisher fast ausschließlich auf Gerichtsakten konzentriert, bei denen unverheiratete Frauen oder Frauen, die nicht mit dem #Kind ihres Mannes schwanger gewesen waren, nach der Geburt ihr Kind getötet haben. »Der Infantizid bei verheirateten Müttern dürfte jedoch um hundert Mal häufiger gewesen sein«, so Hanlon.

Den Forschungsergebnisse zufolge könnten auf dem Höhepunkt der Kindstötungen in der ländlichen Toskana die Opfer bis zu einem Drittel der Lebendgeburten ausgemacht haben. Mittels der Einträge in Taufregistern und kirchlichen Volkszählungen aus Gemeinden in Italien, Frankreich und England hat Hanlon ähnliche Muster bei der Kindstötung in Stadt und Land sowie bei #Katholiken, #Calvinisten und #Anglikanern nachgewiesen. Im Italien des 17. Jahrhunderts schätzt der Historiker, dass in der ländlichen #Toskana die Eltern bei der Geburt von Zwillingen bereit waren, ein Kind zu opfern und nur das andere zu behalten.

Oft kein Unrechtsbewusstsein

Kollegin Laura Hynes Jenkins hat nachgewiesen, dass in Parma Eltern aus der Arbeiterschicht Mädchen bevorzugten. Und auch Dominic J. Rossi hat nach 1650 auch in der französischen Stadt Villeneuve sur-Lot eine klare Bevorzugung von Mädchen festgestellt. Sie sollten durch vorteilhafte Heiraten zum eigenen sozialen Aufstieg beitragen. Evan Johnson wiederum hat Belege dafür gefunden, dass in der französischen Gemeinde Mézin Eltern der Oberschicht eine ganz klare Präferenz für das Behalten neugeborener Mädchen hatten. Hanlon betont, dass es sich bei einer Kindstötung um Mord handelt. Die meisten Menschen hätten dies jedoch nicht als Verbrechen angesehen. Sie lebten mit dieser Tat als eine unangenehme Tatsache des Lebens.